Özdemir als Unschuld vom Lande
Von Dagmar Henn
Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir hat nichts verstanden. Das kann er auch gar nicht. Auch wenn er bei der Kundgebung der Bauernverbände in Berlin um Zuneigung heischt, indem er erklärt, er sei ja auch gegen die Erhöhung der Besteuerung für den Diesel, den die Landwirte verbrauchen (tatsächlich wurde er wohl nicht einmal gefragt). Das ist nur das Sahnehäubchen, das eine lange Liste des Elends garniert, mit der Özdemir bisher so gar keine Probleme hatte. Und dass er dann auch noch dazu auffordert, netter über Finanzminister Christian Lindner, Wirtschaftsminister Robert Habeck und Bundeskanzler Olaf Scholz zu reden, weil man diese doch überzeugen wolle, belegt nur, dass er all diese anderen Belastungen verdrängt hat.
Denn nicht nur, dass das Habeck'sche Heizgesetz natürlich auch die Häuser betrifft, in denen die Bauern wohnen; und auch viele von ihnen nicht den finanziellen Spielraum haben, diesen Vorgaben nachzukommen (ganz zu schweigen davon, dass dann öfter Denkmalschutzvorschriften das alles noch teurer machen); oder gerade bei Menschen, die auf dem Land leben, die höheren Treibstoffpreise für all die Strecken zu Buche schlagen, die unvermeidbar sind, ob zum Einkaufen oder zum Arzt; und die Inflation auch ansonsten zuschlug, weitgehend ohne die Möglichkeit, schlicht die eigenen Produkte zu verteuern.
Soll man dann noch an die zusammenbrechende medizinische Versorgung erinnern, die auf dem Land ohnehin schon schlecht war? Oder an Funklöcher und schlechte Internetverbindungen? Oder an die 25 Prozent der Bevölkerung, die überhaupt nicht an öffentlichen Nahverkehr angebunden sind und daher auch von solchen Gags wie dem Deutschlandticket nichts hatten, und …
Nein, es gibt auch noch einige weitere Punkte, an denen sich die EU- und NATO-Politik bemerkbar macht. Was damit anfängt, dass das importierte ukrainische Getreide die Preise ruiniert hat, auch wenn das nur den Markt für Futtergetreide betraf, weil es für menschlichen Verzehr nicht geeignet war. Und sich bei den Düngemittelpreisen fortsetzt. Die sind inzwischen zwar wieder weit unter ihr Hoch vom Ende des vergangenen Jahres gefallen, aber sie liegen immer noch über dem Ausgangswert vom Januar 2022. Und der Grund für ihr Sinken ist nicht der, den man erwartet. Die Fachzeitschrift agrar heute schreibt: "Landwirte kaufen weiter kaum Dünger. Der Markt steht still."
Dabei wird dieser Dünger inzwischen überwiegend importiert. Die europäische Düngemittelproduktion ist Anfang vergangenen Jahres eingebrochen, und solange keine günstige Erdgasquelle zur Verfügung steht, wird sich das auch nicht ändern. Düngemittelimporte allerdings hat die EU schon im Visier; sie sollen mit "Klimazöllen" belegt werden.
Im Rohr ist auch noch das, was die EU euphemistisch "European Green Deal" nennt. Wie das aussieht, konnte man in den Niederlanden beobachten, wo die Umsetzung massive Bauernproteste auslöste, weil die Vorgaben wirtschaftlich schlicht nicht umgesetzt werden konnten. Die Ergebnisse in Deutschland würden nicht besser aussehen, und die hiesigen Landwirte sind nicht so schlecht informiert, dass sie die niederländische Entwicklung völlig verschlafen haben.
Dann gibt es noch andere Kürzungen, die sich bemerkbar machen. Wenn der Posten "Landschaftspflege und Küstenschutz" gekürzt wird, verbergen sich dahinter auch Ausgaben, die zumindest Fragmente eines kulturellen Lebens auf dem Land erhalten. Oder eben erhalten haben. Es ist nun einmal eine Tatsache, dass sich ohne den Einsatz öffentlicher Gelder für Infrastruktur, aber auch für Vereine oder Kultur das flache Land in eine Ödnis verwandelt. Der Druck seitens der EU-Landwirtschaftspolitik geht seit Jahrzehnten in Richtung immer größerer Betriebe, was logischerweise auch bedeutet, in Richtung immer weniger Bauern, und bei vielen stehen die Einnahmen in keinem Verhältnis zur aufgewandten Arbeitszeit.
Özdemir allerdings, der lieber einen bedeutenderen Ministerposten besetzt hätte, verstand sich nie als politischer Vertreter jener Menschen, die von der Landwirtschaft leben. Eher als Beauftragter für die Umsetzung grüner Ernährungsvorgaben; so geriet er etwa mit Aussagen gegen den Fleischverzehr in die Schlagzeilen.
Letztlich ist es die insbesondere von seiner Partei vorangetriebene Russland-Politik, die die gröbsten Schäden angerichtet hat, genauer genommen die Sanktionen. Denn eigentlich müsste eine Aussage wie "die Düngerpreise sind gefallen, weil nicht gekauft wird" sämtliche Warnleuchten zum Glühen bringen. Die Konsequenz ist nämlich ein geringerer Anbau. Der Dünger wird nicht gekauft, weil das Produkt die Kosten nicht einbringt. Dann wird allerdings nicht nur kein Dünger gekauft, es wird gar nicht erst ausgesät.
Das betrifft den einzigen Bereich, in dem Deutschland bei den pflanzlichen Lebensmitteln noch Selbstversorger war: das Getreide. Bei allen anderen ist die Versorgung ohnehin von Importen abhängig. Noch so ein Punkt, der eigentlich auf der Aufgabenliste eines Landwirtschaftsministers ganz oben stehen sollte, es aber nicht tut. Eigentlich müsste die gesamte Struktur öffentlicher Förderung vor allem darauf ausgerichtet sein, die Selbstversorgung abzusichern. Aber die EU-Agrarpolitik erfolgt nicht für die Produzenten, sondern vor allem für die Lebensmittelkonzerne, die längst die Macht besitzen, die Preise zu diktieren, wie man beim Milchpreis immer wieder erleben konnte.
Nun ist es nicht so, als könnte Özdemir gar nichts tun, um seine vorgetragene Ablehnung der Treibstoffverteuerung zu unterstreichen. Er könnte natürlich zurücktreten. Das würde zwar all die anderen Probleme auch nicht lösen, aber ihm zumindest eine gewisse Glaubwürdigkeit verleihen. Das fiele ihm aber nie ein.
Und in allen anderen Punkten ist er schließlich überzeugter Verfechter dieser Politik; er hat schlicht sein Glück versucht, ob ein wenig Schmeichelei ausreicht, den vorhandenen Unmut auszubremsen. Dabei muss man nur zwei und zwei zusammenzählen, um darauf zu kommen, dass womöglich die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nicht ganz so überraschend war und die ganze Scharade mit den Schattenhaushalten einzig dazu dienen sollte, den zeitlichen Abstand zwischen den verheerenden politischen Entscheidungen und dem Eintreten ihrer Folgen so weit zu strecken, dass die unmittelbare Verbindung zwischen der Kriegslüsternheit und den wirtschaftlichen Folgen nicht mehr so sichtbar ist. Denn jetzt kann man so tun, als wäre ohne dieses Urteil alles in bester Ordnung. Dabei wäre keiner dieser Schattenhaushalte nötig gewesen, hätte man nicht beschlossen, gleichzeitig der deutschen Wirtschaft die Energiebasis zu entziehen, aufzurüsten und viel, viel Geld in den Krieg in der Ukraine zu stecken.
Irgendwie erweckte die unfreundliche Reaktion der Demonstranten auf Özdemirs Liebeswerben den Eindruck, dass diese Rechnung nicht aufgehen könnte. Auch die Neigung, die übrigen Minister mit netteren Bezeichnungen zu versehen, schien sich in Grenzen zu halten. Vielleicht erweist es sich da als Problem, dass die Bauern gar nicht anders können, als in etwas längeren Zeiträumen zu denken, und es nicht gelingt, die Folgen der politischen Fehlentscheidungen von gestern heute als eine Art Naturkatastrophe zu verkaufen.
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